Städtebau und die Wahlen

Europa hat immer gewusst, wertvolle Stadtteile hervorzubringen. Das Fachwissen aus verschiedenen Epochen ist nicht verloren. Ein kleines Namedropping bekannter Quartiere: Kensington, Garbatella, Parioli, Schwabing, St. Germain, Hottingen. Es fragt sich, ob Zürich noch dabei ist. Wohl nicht, wenn wir Hochhaus-Popping – und das ohne Beachtung von städtebaulicher Begründung – betreiben. Wir haben Städtebau und Stadtgestaltung verlernt – wir können es nicht mehr. Städtebau ist mehr als nur Bauordnung, Zonenpläne und Anstiftung zum Hochhausbau. 

In der Biographie von Stadtrat Klöti (1906-42 im Amt) heisst es: «Er war entschlossen, bei der baulichen Entwicklung der Stadt die Initiative und Führung zu übernehmen und für die Zukunft zu planen». Er war sich der durch die Natur gegebenen Form im offenen Gletschertal bewusst. Der Horizont, in dem er sich betätigte, war weit und seine Ernennungen erfolgreich: Den Stadtbaumeister Hermann Herter rekrutierte er aus dem Wettbewerb für Gross-Zürich und Konrad Hippenmeyer machte er zum Chef des Bebauungsplanbüros. Ein Parallelfall war Theodor Fischer in München, der Quartiere mit offenen Blockrandbebauungen entstehen liess. «Offen», weil er eine Verbindung zum Strassenraum wollte.

Heute könnte es das Ziel sein, schönes und lebenswertes Stadtgewebe zu fördern, das sich aus gut gemachten Bauten zusammensetzt. Und es könnte die ziellose und chaotische Verhochhäuselung ablösen und u.a. den Wohnungsbau auf eine bezahlbare Basis stellen, die auch in energetischer Hinsicht gut abschneidet. Es ist wohl auch klar, dass diese Zeilen im Hinblick auf die Wahlen in den Stadt- und Gemeinderat im März 2026 geschrieben wurden. Die Revision der Hochhausrichtlinien befindet sich in Beratung. Die Kommission des Gemeinderats und später der Gemeinderat selbst haben es in der Hand, das 

Türmepflanzen einzuschränken oder ihm gar ein Ende zu setzen.

Die Verhochhäuselung

Ist unsere Agglo am kippen? – in Richtung Wuhan, geschützt durch die allgemeine, aber längst hinterwäldlerisch gewordene Ansicht, das Hochhaus sei fortschrittlich? Tatsache ist, dass wir alle die Banlieues von Paris, Berlin und Glasgow nie besucht und keine Ahnung von deren Wohnbedingungen haben. Wir statteten dem Centre Pompidou, dem Trevibrunnen und dem Markusplatz unseren Besuch ab. Die fehlende kollektive Real-Erfahrung von Banlieue-Spaziergängen darf man uns nicht anlasten, denn unsere Zivilisation ist so geregelt, dass Spezialisten der Stadtverwaltung aus eingehender Kenntnis die Verantwortung übernehmen: «It takes many kinds of people to make a world». Unter dem Druck der Grossimmos mit ihren Hochhauswünschen und ihrem oft viel zu grossen Massstab werden die Städte aus dem Verzicht auf Stadtgestaltung zu Erfüllungsgehilfen. Das Resultat sind Wuhanisierungstendenzen in europäischen Städten. Ist Wuhanisierung heute notwendig um dabei zu sein? In Europa zumindest ist die gewachsene Stadtbausubstanz zu wertvoll um sie wegen Investitionsspässen, wie dem Verkauf von Aussicht, wegzuwerfen, wenn man – wie Paris zeigt – im urbanen Flachbau mit 4-6, ausnahmsweise 8 Etagen die selbe Dichte «lebenswert» erreichen kann.

Grossimmos sind inzwischen eine Tatsache geworden und wir haben mit ihnen einen Löwen in den Stall bekommen. Noch fehlt der Dompteur auf Stadtseite, der dieser neuen Kraft Paroli bieten und eine vorteilhafte Richtung geben kann. Aus diesem Manko speist sich – solange es noch besteht – der Wildwuchs. Es kann also gesagt werden, dass mangelnder Einsatz für die Interessen der Stadt und die Lebensqualität der Bevölkerung in den Bauämtern das Unglück der beliebigen Verhochhäuselung in der Stadt und jetzt auch in der Agglomeration erst ermöglicht.

Banlieue

Was wir tief aus dem letzten Jahrhundert aus Ostberlin, Paris und Glasgow kennen, breitet sich jetzt um die Stadt Zürich herum aus. Der Tages-Anzeiger berichtete am 7. November darüber: Wohnsilos zwischen 54 und 85 Metern Höhe (geteilt durch 3m ergibt die Zahl der Etagen). «Ring Tower», «Rocket» und «Sky-Turm» heissen die wohlklingenden Namen. In Paris u.a. «Honoré de Balzac».  

Die Stadt Zürich leidet schon unter dem Wildwuchs und dem Zerfall des Stadtbilds, weil die Hochhauszonen vor einem Vierteljahrhundert viel zu gross ausgelegt worden sind. Jetzt startet die Agglomeration. Es ist das Zeichen von schwachen Gemeinden, die dem Druck der Grossimmos, die ihr Geschäft mit der Aussicht machen wollen, nicht widerstehen können. Teilweise ist man mental auch in der Mitte des letzten Jahrhunderts stecken geblieben, als Hochhaus & Manhattan noch als «modern» gegolten haben. Offenbar kann man das zeitgemässe Denken an Klima/Energie/CO2 und die Soziologie des Wohnens in diesen Bauämtern immer noch nicht erwarten. Dazu kommt – wie in Zürich – das Fehlen einer guten Stadtplanung. Das wird dann zum Einfallstor für die Eigeninteressen der Investoren. Der Hochhaus-Wildwuchs wird den künftigen Generationen noch Probleme bescheren.

Das massenhafte Hochstapeln vom Menschen für Wohnzwecke wird nicht folgenlos bleiben und auch nicht der Verzicht auf die Planung von angenehmen lebenswerten Wohnquartieren. «Pfähle setzen» macht kein Quartier, das Gemeinschaft ermöglicht, oder sogar fördert. Das kann nur ein Stadtgewebe im verdichteten urbanen Flachbau mit 4-6, ausnahmsweise 8 Etagen. Es braucht die kluge Hand, die die Aussenräume formt, um dann von Bauherren durch individuelle Gebäude bebaut zu werden. Das ist ein Zusammenwirken, das im europäischen Raum schon immer die vielen wertvollen Stadtteile hervorgebracht hat.

Jahrhundertvergleich

Wir kommen aus den nationalen Aufgaben des Bundeshauses und der ETH mit einem epochalen Fernglas heraus. Schwenken wir es doch in unsere Zeit herüber weil grosse Bauten auch in unserer Epoche entstehen. Unsere «Grands Travaux» sind Wohnbauten. Schauen wir uns einmal «Hard & Hohl» – die Prominentesten – bei Beschränkung auf die gröbsten Merkmale an.

Wie in diesen Zeilen auch schon gesagt, positionieren sich die beiden Türme der Bebauung «Depot Hard» und ihr langer Gebäudesockel auf dem Südufer der Limmat, wo sie dem Fluss und dem gegenüberliegenden Wipkingerpark mit ihrer gigantischen Kulisse das Licht stehlen. «Grands Travaux» können mächtig Schaden anrichten, oder wie die ETH, die von der Geländekante aus besonnt über die Stadt schaut, der Stadt eine Krone aufsetzen. Eine «Hand» hat beide gebaut. Weil Bauten ewig sind, kann es immer sein, dass die Recherche einst auf die Autoren trifft.

Die Stadt hat sich auf der Südseite des Gleisfelds an der Hohlstrasse ebenfalls für hoch aufragende Grossbauten entschieden. Eine stetig wachsende Betonkulisse, die sich – einer Raupe gleich – am bis zu 300 Meter breiten Gleisfeld in Richtung Hauptbahnhof weiterfrisst. Hat man je überlegt, was da im Stadtmassstab geschieht? Hitzestau am Gleisfeld, Stapelung von Menschen am Bahnlärm? 

Zum Schluss dieser Vergleichsbetrachtung die Frage: Haben wir im jungen Jahrhundert Werte geschaffen? Haben wir der Stadt etwas gegeben? Und haben wir sie im grossen Bauen (wie z.B. um 1900) gleichzeitig aufgewertet? Darf es im Jahrhundert so weitergehen, oder müssen wir in den Wahlen Besserung einfordern?

Die Metamorphose der ETH

Es geht hier mit den oberen Bildern um die Veränderungen zwischen den 1860er- und den 1910er Jahren an der Rämistrasse auf der Bergseite der ETH. Was wir rechts auf dem historischen Bild, das den Baukomplex von Gottfried Semper darstellt, als separat gesetztes Chemiepavillon sehen, ist verschwunden. Es ist einem Vorplatz mit Rotunde, Kuppel und Flügelbauten gewichen. Hat deren Architekt Gustav Gull den berühmten Semper ausgekippt?

Die Operation ist kolossal. Das Hintergebäude ist einer kolossalen Eingangsfront mit einer räumlich starken Hofgeste zur Rämistrasse gewichen. Gull hat sich als starker Regisseur erwiesen. Er hat die drei Fassaden süd, west (zur Stadt) und nord (Scrafittos) belassen, aber die ganze Mitte herausgerissen und dort die heute erlebbare hohe Halle errichtet und die beschriebene raumwirksame Ostfassade and der Rämistrasse errichtet. Der auf der Talseite in Hochlage gelegene und in den letzten Postings schon beschriebene Sempersaal ist zwar belassen, aber durch eine neue halbrunde Aula mit Kuppel ausgebootet worden. Der ganze Vorgang ist ein Balanceakt sondergleichen. Der Passant bemerkt heute rein gar nichts von den fünfzig Jahre später realisierten Veränderungen, die aus dem Baukomplex etwas ganz anderes gemacht haben. Das Publikum hat immer noch (prominent) von der Talseite her Zutritt, doch der Hauptharst kommt (weniger prominent) von der Tramstation in der Schlucht der Rämistrasse. Der geniale nutzungsgetriebene Kraftakt hat denn auch Kritik eingefangen. Die Weiterführung und sogar Überhöhung des fünfzigjährigen Baustils mit einer doch etwas sakralen Kuppel empfand die zeitgenössische Architektenschaft als altmodisch. Man kann sagen, dass auch sie Opfer war, nämlich der Unreife der Moderne in ihrem damals pränatalen Zustand. 

ETH: Sandstein mit Seele

Wir sind weiterhin bei der ETH – der zwischen 1859- und 68 realisierten nationalen Bauaufgabe. Soeben wurde die Nordfassade mit den hellen Scraffitos aufwendig restauriert. Mit der selben Technik, wie sie um das Jahr Null in Pompeji angewendet wurde: der Auftrag des Sujets trocknet zusammen mit dem noch feuchten Verputz. Gottfried Semper beabsichtigte als einzige die kaum besonnte Nordfassade aufzuhellen. Gleichzeitig thematisiert er die Tugenden, wie z.B. «Disciplina» die der Wissenschaft förderlich sind. Eine Etage tiefer kommen die Helden Europas daher. Die damals neue Institution wurde emotional aufgeladen. Othmar Amman, der Erbauer der Hängebrücken von New York und viele andere Abgänger der ETH haben von hier aus Ihr Selbstbewusstsein in die Welt getragen. Verlangt die ETH Zürich noch ein drittes Posting?

Auch das ganze Ensemble, das man als «stur, langweilig und symmetrisch» abtun könnte, verbirgt Raffinesse. Die oberen zwei Bilder zeigen rechts den ehemals für die Universität vorgesehenen Südtrakt mit seinem stolzen Mittelrisalit. Geht man um die Ecke, erhebt sich als andere Welt die stadtseitige Westfassade (Bild links) mit ihrem elaborierten und noch viel pompöseren Mittelrisalit. Das ist gebautes Drama: Vielfalt in der Einfalt. Es kann auch von gebauter Kommunikation die Rede sein, wenn man die drei riesigen Fenster oben in der Mitte betrachtet, die mit dem Lindenhof sprechen und die Botschaft in die Ferne senden, dass sie zur Aula – dem «Sempersaal» – gehören. 

Der amerikanische Architekt Louis I. Kahn (1901-74) sagte bei seinem Besuch an der ETH mit Vortrag im Jahr 1969: «It is my belief that we live to express».

Ein Meisterstück in Zürich

Auch Zürich hat ein städtebauliches Meisterstück mit Alpenblick vorzuweisen – ebenfalls eine Bundesaufgabe höchsten Ranges: die Eidgenössische Technische Hochschule, situiert auf einer Geländestufe über der Altstadt. Das Bundeshaus ist – wie wir gesehen haben – genial ins Gewebe der Altstadt integriert. Die ETH hat eine andere Rolle: sei thront auf einer Moräne über der Zürcher Altstadt. 

Was die unteren zwei Bilder zeigen: Nach Abtragung der grossvolumigen Befestigungs-Schanzen aus der Barockzeit ergab sich plötzlich viel Platz. Hier wurde sehr früh – um 1840 – von der Stadt Zürich die bemerkenswert kluge Entscheidung gefällt, das Spital nicht auf die von der Stadt her gut einsehbare Kante der Moräne zu bauen, sondern den prominenten Platz einer bedeutenderen Bauaufgabe vorzubehalten. Anfänglich erhielt die lange Diagonale des Spitals (einschliesslich des heute noch bestehenden Anatomiegebäudes) noch Alpensicht. Wo wir im Schanzenplan oberhalb des Seilergrabens den zweiten Zacken sehen, befindet sich heute das ETH-Gebäude mit seinen zwei Innenhöfen und dem zur Rämistrasse hin ausgelagerten Chemietrakt.

Wie die ETH erhaben auf der Geländekante steht, führen die oberen zwei Bilder vor. Zürich hat dem nationalen Bau, wie Bern den besten Platz zugewiesen indem es die Stadt und unser offenes (ehemaliges) Gletschertal erlebbar macht. Diese beiden prominenten Platzierungen des vorletzten Jahrhunderts können unsere Wahrnehmung für städtebauliche Vorgänge schärfen. In Bern die Einfügung grosser Volumen in die Stadtstruktur und in Zürich die die Anordnung auf einer ehemaligen Moräne.

Das Meisterstück von Bern

Nach den vorangehenden Postings muss wieder einmal an grossartige städtebauliche Leistungen in der Schweiz erinnert werden. Allen voran Bern mit seinem Bundeshaus. Die Einfügung der grossen Baumasse in die Längsstruktur der Gassen von Alt-Bern ist einzigartig, besonders, wenn man bedenkt, dass 1857 erst das Bundeshaus West (links) erbaut, dann 1892 das Bundeshaus Ost und erst am Schluss 1902 als Kronjuwel das zentrale Parlamentsgebäude. 

Bemerkenswert ist der über 50 Jahre vorausschauende Planungsprozess, der trotz den unterschiedlichen Baustilen ein stimmiges Ganzes hervorbrachte. Die Übernahme des Knicks in der Stadtstruktur führt zu einer konkaven Muschel, die auf Jungfrau, Mönch und Eiger zielen. Auch die Stadtseite ist mit der Ausrichtung auf den Bundesplatz – eine Lücke in den Bauzeilen Berns – geglückt.